KW 16

Selten ist wohl ein Reformprojekt im Gesundheitswesen mit so viel positiver Spannung begleitet worden. Mit reichlich zwei Monaten Verspätung ist Anfang April 2022 das Gutachten zum Ambulantisierungspotenzial bei diagnostischen und therapeutischen Behandlungen sowie operativen Eingriffen, die bisher im Krankenhaus stattfinden, veröffentlicht worden. Dies war eine Forderung des Gesetzgebers – erhoben mit dem MDK-Reformgesetz von Januar 2020. KBV, GKV-Spitzenverband und Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) waren an den Beratungen im Vorfeld beteiligt. Alle drei Akteure lobten nun auch das Gutachtenergebnis, mit dem in Ergänzung zu den bestehenden 2.879 OPS-Codes, die ambulant erbracht werden können, weitere 2.500 Leistungen benannt werden, für die in Zukunft ein ambulanter Vorbehalt gelten könnte (~ eine Auflistung nach Clustern und Fachrichtungen bietet die Ärztezeitung). Sofort ging allerdings auch das politische Taktieren los: Während die DKG-Vertreter unter Ambulantisierung verstehen, das Kliniken ihre ambulanten Kapazitäten ausbauen, weil „nur dort die notwendigen Strukturvoraussetzungen existieren,“ nennt KBV-Vorstand Gassen es ‚Jägerzaun-Ambulantisierung‘, wenn bei der Reform davon ausgegangen würde, wer bis jetzt eine Leistung erbracht habe. Vielmehr müsse die Entscheidung daran geknüpft werden, wo die Leistung sicher und sinnvoll erbracht werden könne. „Ich habe keine Zweifel, dass eine gut ausgestattete Praxisklinik im Standard nicht schlechter ist als viele Krankenhäuser.“ Die Kassenseite meldete sich mit der Erklärung zu Wort, dass das Gutachten wertvolle Vorarbeiten leiste, „unnötige stationäre Krankenhausaufenthalte und die damit verbundenen Risiken für Patientinnen und Patienten“ zu vermeiden, weshalb sich „der GKV-Spitzenverband … in den Beratungen mit der KBV und der DKG für eine substanzielle Erweiterung des AOP-Katalogs einsetzen [wird].“ ———————————- So hoffnungsvoll diese Töne klingen mögen: Nichts davon wird schnell gehen. Der bisher bekannte weitere Zeitplan erstreckt sich komplett über die Jahre 2022/23. Zwar sind entsprechende Vorhaben bereits im Koalitionsvertrag von Rot-Grün-Gelb verankert worden (~Hybrid-DRG- – eine verrückte Idee zum Wohle der Patienten? ), aber die wirkliche Arbeit, aus einer guten Idee echte Reformen abzuleiten, fängt jetzt erst an und die Verteilungskämpfe zwischen den Sektoren werden ganz sicher bald auch wieder schärfere Töne mit sich bringen. Es bleibt abzuwarten, wie viel Reformdruck die Politik erzeugen kann, um die Akteure am Tisch und bei Laune zu halten.

In einer Pressemitteilung hat der GKV-Spitzenverband vor Ostern mitgeteilt, dass im ersten Quartal 2022 mehr als eine Million Krankschreibungen digital von den Ärzten an die Kassen übermittelt worden seien (~ zur Meldung). Die Bilanz der Verbandsvorsitzenden Doris Pfeiffer fällt damit positiv aus: “Das erste Quartal der Pilotierung stimmt zuversichtlich, dass wir die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in absehbarer Zeit und in vollem Umfang auf die Schiene bekommen.” Aus Sicht der Kassen geht es bei der eAU vor allem um eine Neuverteilung der Aufgaben, die die Versicherten entlastet und ihnen selbst die Bürokratie vereinfacht. Im Umkehrschluss sind die Ärzte neu dafür in der Verantwortung, dass die eAU-Daten an die Kasse gehen. Hierzu hatte das Sozialgericht Dresden bereits im Februar (noch nicht rechtskräftig) entschieden, dass technische Probleme mit der eAU nicht zu Lasten der Patienten gehen dürften (~ Meldung des SG Dresden v. 2.2.2022). Hintergrund dieser Entscheidung ist, dass – völlig unabhängig von der mehrfachen Verschiebung der Verpflichtung zur eAU-Übermittlung durch die Praxen – seit Januar 2021 formal der Patient nicht mehr in der Pflicht ist, die Krankschreibung an die Kasse zu melden, sondern die Vertragsärzte – und dass dementsprechend ein Versäumnis bezüglich der Meldeobliegenheiten seit dem auch nicht dem Patienten angelastet werden dürfe. Der weitere Verfahrensgang bleibt abzuwarten.  Wird die Entscheidung aber in den höheren Instanzen bestätigt, wirft das zahlreiche Fragen hinsichtlich der Verantwortung auf, wenn es künftig einmal zu technischen Problemen bei der eAU-Übermittlung kommen sollte. Davon unbeeindruckt appellieren Kassen und gematik gleichermaßen an Praxen und MVZ, mit dem Start der AU-Übermittlung über die Ti nicht bis zum Juni 2022 – dem aktuell gültigen Startpunkt der eAU als Pflichtanwendung – zu warten. Im Interview gab Gematik-Abteilungsleiter Hartge Mitte März 2022 an, dass “aktuell … rund 20 Prozent aller ausgestellten AUs elektronisch übermittelt [werden]. Noch viel Luft nach oben also – auch wenn die Million des GKV-Spitzenverbandes viel klingen mag. Die KBV hat dazu passend im März 2022 auch die Praxishilfe ” Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung” (~ als PDF öffnen) einem Update unterzogen. Ergänzend dazu gibt es eine einseitige Information für Patienten (~ als PDF öffnen), die Praxen mit ihrem Stempel individualisieren könne. Unverändert empfehlenswert ist auch der Leitfaden der KZBV zur eAU und der Frage, was der Ausstellungsprozess für den Praxisalltag (nicht nur von Zahnärzten) bedeutet (~ als PDF öffnen).

Gefühlt ist das Thema der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, das im März so viel Aufwand bereitete, schon beinah wieder irgendwie weg. Jedenfalls gibt es weder eine besondere Presseöffentlichkeit, noch scheint die Politik derzeit Aufmerksamkeit für damit zusammenhängende Fragen übrig zu haben. Fast drängt sich der Eindruck auf, dass alle froh sind, zu dem Thema gerade keine aktive Baustelle zu haben. Da scheint es nur folgerichtig, dass die Bundeszahnärztekammer als eine der ersten großen Standesorganisationen im Zuge der gescheiterten Bundestagsdebatte zur allgemeinen Impfpflicht vom 7. April forderte, auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht auszusetzen. Dabei wurde von den medizinischen Einrichtungen, inkl. der Praxen und MVZ mit enormen Aufwand verlangt, impfunwillige Mitarbeiter zu erfassen und dem örtlichen Gesundheitsamt zu melden. Aus kaum einer Region gibt es hierzu jedoch Informationen, wie mit den eingesammelten Personendaten weiter verfahren wird. Das Portal Business-Insider hat zumindest Mitte April die Aufgabe übernommen, einmal für alle 16 Ländern die aktuellen Zahlen zusammenzutragen. Insgesamt ist die Rede von Erwartbaren Impfquoten, bzw. davon, dass 94 % der Klinikbeschäftigten vollständig geimpft oder genesen seien  Dennoch konstatiert das Politik-Portal Telepolis ergänzend Wiedergabe der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AFD, dass sich “allein von Dezember 2021 bis Februar 2022 … … insgesamt rund 96.000 Personen aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Wirtschaftsabschnitt Q ‚Gesundheits- und Sozialwesen‘ (…) arbeitsuchend” gemeldet hätten. ———————  So oder so, dass eine Vorschrift, deren Befolgung im Vorfeld bei den betroffenen Arbeitgebern einen dermaßen hohen Bürokratie- und Organisationsaufwand verursacht hat, jetzt einfach so im Dschungel ‘neuer Neuigkeiten’ und plötzlich wichtigerer politischer Interessensobjekte verschwindet, verschärft wohl vor allem das Glaubwürdigkeitsproblem der Bundesregierung, das bezüglich der (fehlenden) Konsistenz ihrer Corona-Politik ohnehin bei vielen latent bestehen dürfte.

Von Anfang an waren IGeL-Angebote einerseits umstritten, während Ärzte und Patienten teils ganz gut mit ihnen leben. Denn auf jedes Selbstzahlerangebot, das patientenseitig als unangenehmes Aufdrängen empfunden werden mag, kommt eben auch eines, bei denen Patienten sich ernst genommen fühlen und für das sie in dem Gefühl, gut behandelt worden zu sein, die Rechnung begleichen. Die Krankenkassen, die vor zehn Jahren den IGeL-Monitor ins Leben gerufen haben, sehen das Thema naturgemäß etwas anders – sprich grundsätzlich kritisch. Kernargument ist: Wäre die Leistung wirklich medizinisch sinnvoll, dann wäre sie auch Teil des GKV-Kataloges. Gleichzeitig besteht hier ein Interesse, genau das – die Ausweitung des Leistungskataloges – zu verhindern, weswegen IGeL-Angebote doppelt kritisch betrachtet werden. Im Rahmen einer Pressekonferenz vom 24. März erklärte der Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Bund (~ mehr zu), der den IGeL-Monitor betreibt: ‘Die meisten der angebotenen Selbstzahlerleistungen (IGeL) hätten keine Chance, im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Leistung der GKV anerkannt zu werden.’ Gleichzeitig wurde kritisiert, dass der Verkauf unnützer oder im schlimmsten Fall auch Negatives bewirkender Therapien “den einfachsten Regeln der Patientensicherheit [widerspricht].” Letzteres wurde vor allem auf die Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung von Eierstockkrebs bezogen. Als kritisch wurden zudem auch Vitaminchecks und -kuren angesprochen. Der IGeL-Monitor wird von vielen Patienten als Orientierungshilfe genutzt. Praxisteams sollten sich daher im Nachgang zur Berichterstattung über die 10-Jahresbilanz auf entsprechende Fragen einstellen. Die Webseite selbst gibt den Patienten folgende Handreichungen dazu, was Ärztinnen und Ärzte bei IGeL beachten müssen, mit auf den Weg: Anbieten – Aufklären – Abrechnen: 15 Regeln bei Individuellen Gesundheitsleistungen (PDF | 2 Seiten).

Eines der Workshopthemen des SpiFa-Fachärztetags von Anfang April war das ‘Cyber-Risiko’, dem jeder Internetnutzer, also auch Arztpraxen und MVZ beständig ausgesetzt sind. Der Referent Lars Huwald ist Kriminaloberkommissar der Zentralen Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) des Berliner LKAs. Er warnte davor, dass neun von zehn Firmen mittlerweile Opfer von Cyberangriffen würden und beschrieb die entsprechenden Vorgehensweisen. In dem Kontext ergänzte die Co-Referentin Hannelore König vom Verband medizinischer Fachberufe, dass es in den Praxen oft die MFA seien, die vor allem mit der Praxis-IT in Berührung sind. Allerdings stünden weder Datenschutz noch Datensicherheit in den Ausbildungsplänen der MFA. Deswegen sollten Praxisinhaber sich der Notwendigkeit bewusst sein, ihre Mitarbeiter fortlaufend auch zu solchen Fragen zu schulen und bei der technischen Weiterbildung zu unterstützen. Denn klar ist, wie der änd im Interview mit einem weiteren ZAC-Kommissar herausarbeitet, dass “die Haupteinfallstore immer noch E-Mails mit Links und Dateianhängen [sind].” Typisch sei weiter, sich Schadsoftware über den Besuch von Webseiten oder verseuchte USB-Sticks einzufangen. “Keiner sollte meinen, dass er als Ziel von Cyberkriminellen uninteressant ist. Wer meint, er habe ja nur eine kleine Arztpraxis, wer interessiere sich schon für diese Daten, denkt in die falsche Richtung. Die Frage ist nicht: Welchen Wert haben die Daten für den Täter? Die Frage ist eigentlich: Welchen Wert haben die Daten für mich, wenn sie weg oder unerreichbar also zum Beispiel verschlüsselt sind?” Beide Texte des änd sind leider im Abo-Bereich des Portals versteckt – eine Aufzeichnung des SpiFa-Webinars vom 1. April kann man allerdings über Youtube frei abrufen (~ Stream öffnen). Außerdem hat die KV Berlin das Thema ‘Cybercrime in Arztpraxen’ zum Titelthema ihrer Märzausgabe gemacht. Dort findet sich u.a. ein frei zugängliches Interview mit den ZAC-Kommissaren. Das Technik-Portal heise.de bietet zudem in verschiedenen Basistexten größtenteils auch für technische Laien verständliche Informationen zu Vorgehen und Vorbeugung von Cyberkriminalität via unachtsamer Mitarbeiter: Mailattacken: Wenn die Nachricht vom Chef eine Falle ist | Business E-Mail Compromise: Effektive Abwehrstrategien | Ransomware-Angriffsmuster und wie man sich vor ihnen schützt.