WICHTIG IM PRAXISALLTAG
Praxiswebseite:
Neue Pflichten durch das Barrierefreiheitsgesetz
Hintergründe und Handlungsempfehlung
Ab Sommer 2025 gelten branchenübergreifend für gewerbliche Webseiten – also grundsätzlich auch für Homepages von BAG und MVZ – neue Pflichten. Ausgenommen sind Kleinbetriebe und Praxen mit weniger als zehn Mitarbeitern oder unter 2 Millionen € Jahresumsatz. Cave! Wegen des Oder-Kriteriums dürften die meisten MVZ und Gemeinschaftspraxen formal betroffen sein und sollten sich daher im Minimum theoretisch mit den Vorgaben befassen und auf jeden Fall einen individuellen Betroffenenheits-Check machen. Rechtlicher Hintergrund ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – BFSG vom Sommer 2021, das am 28. Juni 2025 in Kraft tritt und zum Ursprung eine europäische Initiative hat (~ EU-Richtlinie 2019/882). Verstöße können ab nächsten Sommer sowohl wettbewerbsrechtlich als auch mit Bußgeldern sanktioniert werden. Niederschwellige Anlaufstellen für Beschwerden von Nutzern oder auch seitens geschäftlicher Konkurrenten sind u.a. die Verbraucherschutzzentralen sowie eigens eingerichtete regionale Überwachungsstellen (~ Linkliste der 16 Bundesländer).
Das Gesetz zielt vor allem auf das große Feld des E-Commerce; die ambulante Versorgung ist lediglich ‚mitbetroffen‘. Folglich verpflichtet das BFSG nur solche Webseitenbetreiber, die nach dem 28. Juni 2025 „Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr“ (~ § 1 Absatz 3 Nr. 5 BSFG) anbieten. Eine Übersicht dazu, was damit gemeint ist, sowie weiterführende Verlinkungen bietet das Kurzbriefing für Arztpraxen und MVZ (PDF | 1 Seite) der Kanzlei Taylor Wessing. Dienstleistung im Sinne des BFSG sind bei Praxiswebseiten als erstes Terminbuchungs-Tools sowie im zweiten elektronische Formulare, soweit sie zur Rezeptbestellung oder Terminanbahnung dienen. Dabei gilt: „Fällt die Webseite aufgrund mindestens eines darin enthaltenen und barrierefrei zu gestaltenden Elementes unter das BFSG, so muss als Rechtsfolge die gesamte Seite barrierefrei gestaltet werden.“ (~ Quelle) Barrierefreiheit meint in dem Kontext die Berücksichtigung besonderer Vorgaben u.a. zu Lesbarkeit, Farbkontrasten, Bildbeschriftung, Seitenstruktur, usw.
Fazit ist: Jede Praxiswebseite, die solche Tools nutzt, muss sich mit den neuen Pflichten befassen. Parallel greift allerdings, wie Jurist Dr. Martin Jäger (~ Infos + Kontakt) auf Nachfrage der BMVZ-Redaktion ausführt, dass „in § 1 Abs. 4 Nr. 4 BFSG eine Ausnahme für Inhalte von Drittanbietern vorgesehen ist. Bei Doctolib oder vergleichbaren Terminbuchungstools handelt es sich um solche Inhalte von Dritten.“ Aber: „Die Ausnahme gilt nicht, wenn das Terminbuchungstool von der Arztpraxis/der Trägergesellschaft eigens entwickelt oder mit einem Drittanbieter entwickelt, finanziert oder kontrolliert wird.“ Soweit also eine Arztpraxis ein fertiges Tool eines Drittanbieters als Dienstleistung einkauft und weder an der Entwicklung beteiligt war, noch weiterführende Kontrolle über das Produkt ausübt, löst die Nutzung „die Anforderungen des BFSG regelhaft nicht aus,“ bzw. der Drittanbieter muss sich um die Barrierefreiheit kümmern.
Die Plattform Aktion Mensch empfiehlt jedoch korrekterweise: „Ziehen Sie auf jeden Fall einen Rechtsbeistand hinzu, wenn Sie vermuten, nicht unter die Regelungen zu fallen, oder wenn Sie die notwendigen Änderungen nicht vornehmen können. Eine barrierefreie Website hat viele Vorteile, auch wenn Sie nicht dazu verpflichtet sind.“ (~ Gibt es Ausnahmen zur Pflicht zur Barrierefreiheit?) Im Übrigen ist – Stand 12. Dezember 2024 – weder bei Doctolib noch bei Konkurrent Samedi bisher die ab Sommer verpflichtend vorzuhaltende Barrierefreiheitserklärung zu finden (~ aktuelle, reale Beispiele solcher Erklärungen: Arztpraxis | MVZ 1 | MVZ 2 | Krankenhaus | BMG). Auch hier gibt die Aktion Mensch den richtigen Hinweis: „Sie sind für die Barrierefreiheit Ihres Online-Auftritts selbst zuständig, unabhängig davon, ob Sie eine Funktion selbst programmiert oder von einem Drittanbieter eingebunden haben. Sie sollten also nach Drittanbietern suchen, deren Produkte barrierefrei sind. […]“ – Pflicht zur Barrierefreiheit | Wie gehe ich mit Systemen von Dritten um?
Da das Erstellen barrierefreier Webseiten und insbesondere das entsprechende Anpassen bestehender Homepages nicht trivial ist, sollten betroffene Praxen das verbleibende halbe Jahr nutzen, eine klare Entscheidung zu forcieren, ob sie ihre Webseite BFSG-konform umbauen oder alternativ entscheiden, ggf. durch gezielten Rückbau, bzw. Weiterentwicklung des Online-Angebots den BFSG-Betroffenenstatus für den Moment zu unterlaufen. Auch wenn natürlich das Gesamtziel, den digitalen Verkehr für Sehbehinderte und kognitiv beeinträchtigte Menschen leichter nutzbar zu machen, in jeder Hinsicht zu unterstützen ist. Eine interessante und differenzierte Orientierung dazu bietet dieser Text: Die Einführung des EU Accessibility Act? Das wird teuer! Und für alle, die sich weiterführend, aber kurzweilig über barrierefreies Webdesign informieren wollen, bietet der Blog ‚Gehirnfasching‘ (Eintrag v. 24.10.2024) einen schnellen Einstieg: Barrierefrei – Wie man eine Arztpraxis-Website für ALLE erstellt.
Dieser Artikel erschien in der PRAXIS.KOMPAKT der KW 50 am 15.12.2024.