Erfolgreiche Unternehmen leisten sich mitunter die Position eines internen ‚Widersprechers‘. Oft hochdotiert, weil unbeliebt, ist es Job von Personen in dieser Rolle, auf die Unzulänglichkeiten von Plänen und Strategien hinzuweisen. Im Fall der kürzlich veröffentlichten Forderung der KBV nach „neuem Geld“ braucht es jedoch keinen solchen Advocatus Diaboli, um aufzuzeigen, dass realistische Konzepte der Zukunft gerade nicht im „Mehr vom Alten“ liegen können. Vielmehr reicht es, den KBV-Plänen den taufrischen Tragfähigkeitsbericht und die Prognosen der GKV gegenüberzustellen. Für Interessierte zeigen wir nachfolgend die Zusammenhänge auf.
Der Tragfähigkeitsbericht wird vom Finanzministerium herausgegeben und beschreibt mithilfe unterschiedlicher Szenarien – grob gesagt – die Belastbarkeit des Bundeshaushaltes (~ zum Bericht | öffnet als PDF). Damit einher gehen auch Prognosen über die Entwicklung der Sozialsysteme, nebst den Krankenkassen. Die Kurzfassung: Obwohl sich einige Parameter, wie die Geburtenrate zum Positiven entwickeln, zeichnet der Bericht ein düsteres Bild für die kommenden 40 Jahre. Die positiven Auswirkungen setzen erst in einigen Dekaden ein. Im Bericht werden Faktoren wie die Fertilität und Lebenserwartung auf die volkswirtschaftlichen Faktoren (Kapital, Arbeitsleistung, technischer Fortschritt etc.) umgelegt und anschließend auf das Bruttoinlandsprodukt projiziert. Daraus leitet die Studie die altersbedingten Budgetausgaben ab. Darin inbegriffen sind auch Ausgaben für die Krankenkassen. (Übersicht auf S. 19)
Für die Krankenversicherungen wurde im diesjährigen Bericht das Berechnungsverfahren geändert (S. 33ff.). Dadurch steigt die Prognose der GKV Ausgaben stark an, zeichnet jetzt wohl aber ein realistischeres Bild. Zur Einschätzung: Vorpandemisch lagen die Ausgaben bei etwa 7 Prozent des BIP. Das angegebende Worst case Szenario liegt bei 10 Prozent (2070) des BIP. Zum Vergleich: Momentan wären ein Prozent des BIP 42,6 Milliarden Euro. Dieses eine Prozent entspricht etwa der Summe der ambulanten ärztlichen Versorgung 2022 (~ Quelle). Ursache für die Steigerung ist die Altersstruktur, aber auch die erhöhte Lebenserwartung und der medizinische Fortschritt. Der Bund ist über die Zuschüsse zum Gesundheitsfonds direkt an dessen Finanzierung beteiligt. Gleichzeitig muss das Bundesbudget die ‚Zuschüsse zu den Renten‘ abdecken (~ mehr dazu) und andere massive Investitionen tätigen, die seit 2022 akut geworden sind. 2025 fällt zusätzlich die doppelte Haltelinie für die Rente, was sich ebenso auf das Bundesbudget und die SV Beiträge auswirkt (~ mehr dazu).
Die Vorboten der sich verschärfenden Entwicklung zeichnen sich bereits jetzt ab. Nach den kürzlich veröffentlichten Zahlen hatten die Krankenkassen 2023 Ausgaben in Höhe von 306,2 Milliarden € und damit 2,5 Milliarden € Defizit zu verbuchen (~ ÄrzteZeitung v. 11.03.2024). Für das kommende Jahr prognostizieren die Kassen folgerichtig eine Beitragserhöhung. Wenn diese Erhöhung nicht den Zusatzbeitrag trifft, werden auch alle Arbeitgeber mit in die Pflicht genommen. Was solch hohe/höhere SV-Abgaben für die Bereitschaft zur Vollzeittätigkeit in Niedriglohnberufen wie der MFA-Tätigkeit bedeuten, hatten wir bereits beleuchtet (~ PRAXIS.KOMPAKT KW 8 | Teilzeit als volkswirtschaftliches Problem). Die Beschreibung der dramatischen Folgen ließe sich weiter fortsetzen. Bedenkt man, dass die anderen Akteure, die sich am Gesundheitsfonds bedienen, ebenfalls wirkmächtige Player sind, liegt folgende Schlussfolgerung mehr als nahe: Unabhängig von der amtierenden Regierung ist und bleibt ein Geldsegen für den vertragsärztlichen Sektor – der über gängige Inflationsausgleiche hinausgeht – ein sehr unwahrscheinliches Zukunftsszenario.
Es verwundert darum, dass es immer wieder Vorschläge gibt, die sich einzig auf ein ‚Mehr an Geld‘ berufen, um die Herausforderungen für den ambulanten Sektor anzugehen. Das trifft, zugegebenermaßen, nicht vollends auf das Interview zu, das Dr. Hofmeister dem Ärztenachrichtendienst gab (~ Hofmeister zu EBM-Reformen v. 21.03.2024). Dennoch betonte der KBV-Vize: „Wenn wir etwas im EBM verändern, muss es tatsächlich mit neuem Geld passieren.“ Es ist zwar vollkommen natürlich, dass Interessenvertretungen solche Forderungen stellen. Nur, wie realistisch ist ein Reformprozess, der auf Ressourcen setzt, die höchstwahrscheinlich nicht zur Verfügung stehen werden? Immerhin bringt die KBV auch konkrete Vorschläge ein, wie den Wandel des „Arzt-Patienten-Kontakt in einen Praxis-Patienten-Kontakt“ – wahrscheinlich nach dem Vorbild der HZV. Hierzu sei man in Gesprächen mit dem GKV-Spitzenverband.
Das ganze Dilemma lässt sich nicht abschließend beschreiben und eine einfache Lösung ist ohnehin nicht in Sicht. In einem unserer Artikel aus dem vergangenen Jahr, der im Kontext des Ärzteprotests in Lahnstein entstand, verwiesen wir auf eine prägnante Aussage: „Wer die Patienten mit ins Boot holen will, muss ihnen auch eines anbieten.“ Das gilt aus Sicht der Interessenvertretungen auch für die Politik. Gefragt sind daher konstruktive Vorschläge ohne großen finanziellen Aufwand. Der vom BMVZ unterstützte Vorstoß zu den Gesellschaften mit gebundenen Vermögen (GmgV) und eine normative Überarbeitung der SGB-V-Vorgaben für MVZ-Gründerärztinnen und -ärzte wären unseres Erachtens geeignete, realistische und kostengünstige Schritte: Neu denken in der MVZ-Debatte | Wer Ärzte als MVZ-Gründer will, sollte Ärzte auch in den Fokus stellen.