Wer hätte das vorausahnen können:
Ein Weihnachtsinterview des Bundesgesundheitsministers wirbelt die ambulante Versorgungslandschaft so sehr durcheinander, dass die Bundesärztekammer wenige Tage später die folgende, ungewöhnliche Überschrift produziert: “Ärztepräsident verteidigt MVZ-Ketten.” Ausgangspunkt waren Aussagen von Prof. Karl Lauterbach – veröffentlicht genau an Heiligabend in der Bild am Sonntag – dass er in den Bereichen Klinik, Arzneimittel und ambulante Versorgung die Ökonomisierung durchbrechen wolle. Er erklärte u.a wörtlich, dass er “einen Riegel davor[schieben wolle], dass Investoren mit absoluter Profitgier Arztpraxen aufkaufen,” und dass er explizit dazu innerhalb der nächsten Monate ein Gesetz vorlegen werde.
Damit hat die Frage, die sich der BMVZ und viele Akteure im MVZ-Bereich seit Längerem wieder stellen, ob nämlich 2023 regulative Einschränkungen per neuer Normsetzung kommen, einen ganz neuen Twist erfahren. Angesichts der höchst unorthodoxen Art und Weise der Ankündigung, stellt sich allerdings auch die Frage, wie weit der Minister hier im Alleingang ‘einfach mal einen rausgehauen hat’, bzw. inwieweit dieser Interviewpassage bereits umfassende Reformanstrengungen des BMG zugrundeliegen. Immerhin verdichten sich bereits seit etwa zwei Monaten die Äußerungen der BMG-Spitze dahingehend, dass klar ist, dass Karl Lauterbach beim MVZ-Thema persönlich Regulierungsbedarf erkannt hat. Andererseits ist die MVZ-Regulierung kein Koalitionsprojekt – in dem erst ein Jahr alten Koalitionsvertrag ist lediglich von Entbürokratisierung im Kontext kommunaler MVZ und bei der Zulassung von Zweigstellen die Rede. Entsprechendes kündigte auch der letzte bekannte Vorhabenplan des BMG (Stand 24.11.2022) an. Nun aber diese äußerst konkreten Ministerworte: Welche Bedeutung haben sie?
Der Minister ist der Minister – d.h., er hat durchaus Macht und Kompetenz, eigene Themen zu setzen und zu forcieren. Andererseits muss er dabei zwingend auch seine Koalitionspartner mitnehmen. Und natürlich muss er sich an seinem eigenen, mantra-artig vorgetragenen Anspruch bezüglich evidenzbasierter Entscheidungen messen lassen. An den aktuellen Äußerungen – insbesondere auch bei dem zugehörigen Twitterpost: “Profitorientierte Ketten von Arztpraxen feiern wahrscheinlich ihr letztes schönes Weihnachten. Schon bald kommt das Ende.” – fällt vor allem die völlig unsachliche, eher stammtischorientierte Wortwahl auf. Und auch die Attacke im Interview gegenüber dem “Promi-Arzt“, der “seinen Namen für Dutzende Praxen hergibt, in denen junge Ärzte Hamsterradmedizin mit unnützen Behandlungen in schlechter Qualität betreiben,” ist weit entfernt von seriöser Politik.
Eine Folge ist, wie eingangs schon erwähnt, dass selbst die BÄK sich genötigt fühlt, zu erklären, dass nicht nur MVZ und Praxisketten, sondern auch Investoren als Träger durchaus wichtig und relevant für die Versorgung seien. Man solle daher nicht überstürzt handeln – ein Fremdbesitzverbot wäre nicht der richtige Weg. Konkret schlug Ärztepräsident Reinhardt vor, dass künftig nur noch fachübergreifende Versorgungszentren zugelassen werden sollten. Außerdem solle der Marktanteil der von Finanzinvestoren betriebenen MVZ in der Regel auf 10 Prozent begrenzt werden. Diese Aussagen entsprechen einem 26-seitigen Positionspapier der BÄK, das bereits Mitte Dezember in das gesundheitspolitische Berlin eingespeist worden war. Aber auch andere Player hatten sich im Vorfeld differenziert zu Wort gemeldet. Über die diesbezüglich besonders überraschenden Ideen des VDEK (~ Ausgabe der KW33 v. 19.08.2022) und die klaren Ansagen des früheren BSG-Richters Prof. Wenner zur Frage, welche Regulierungen überhaupt verfassungskonform wären (~ Ausgabe der KW43 v. 28.10.2022), hatten wir bereits berichtet.
Aktuell kommt ein Impulspaier des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) hinzu (~ als PDF öffnen), das die Überschrift trägt: “Unternehmenspotenziale heben – Qualitätswettbewerb stärken”; die zugehörige Pressemeldung trägt das Label: “Potenziale der Medizinischen Versorgungszentren stärker nutzen.” Inhaltlich geht es der Wirtschaftsvereinigung mit dem Ziel, “die medizinische Versorgung als Standortfaktor für die Wirtschaft zu stärken und die Versorgung der Beschäftigten zu verbessern,” darum, “die Chancen von MVZ umfassender [zu nutzen]. Vor dem Kontext tritt man für Stärkung der Trägervielfalt ein, was sich auf die weiteren, bis 2011 zulässigen Träger bezieht und damit einer langjährigen Position des BMVZ entspricht. Außerdem sollen “Größenvorteile und Kompetenzen überregionaler MVZ-Gruppen insbesondere für neue MVZ in ländlichen Regionen weiterhin genutzt werden können.” Und es wird eine Lanze dafür gebrochen, dass Arztpraxen und MVZ legitimerweise auf wirtschaftliche Erträge aus dem Medizinbetrieb angewiesen seien, denn: “Jedes wirtschaftlich gesunde MVZ ist zugleich eine Investition in eine nachhaltige medizinische Versorgungsstruktur, die für eine alternde Gesellschaft unverzichtbar ist.“
Nimmt man alle diese Entwicklungen zusammen, scheint vor allem eines klar: Die politische Debatte zur MVZ-Regulierung, die uns im neuen Jahr erwartet, wird eine andere Qualität haben als bisher. Insbesondere auch, weil sich Akteure einbringen, die bisher keine Ambitionen beim MVZ-Thema zu haben schienen. Möglich wäre, dass gerade die unablässige Kampagne gegen MVZ, bzw. gegen ihre nichtärztlichen Träger, die ihren aktuellen Ausgangspunkt in den Aktivitäten der KV Bayerns vom April 2022 hat (~ mehr Informationen), bewirkt, dass ganz neue Akteursgruppen auf den Plan gerufen werden, die – anders als bei Regulierungsprojekten früherer Gesundheitsminster – nicht einfach übergangen werden können. Eine ähnliche paradoxe Wirkung könnte auch das brachiale Lauterbach-Interview entfalten, wie schon die BÄK-Positionierung vom 29. Dezember andeutet – da es in seiner Überzeichnung der Gefahr, die von MVZ oder Praxisketten ausgeht und mit der sicher auch viele niedergelassenene Ärzt:innen irritierenden Aussage, dass die Erwartung von 10 % Rendite eine “absurde Profitgier” darstelle, eine höchst wackelige Basis für eine sachlich begründete MVZ-Regulierung darstellt. Für die These, dass die kommende MVZ-Debatte neuartigen Mustern folgen könnte, spricht im Übrigen auch die erste Reaktion des Pressesprechers des GKV-Spitzenverbandes auf die Ministeraussagen, die vom MVZ-Thema wegführen und grundsätzlich den Zulassungshandel in Frage stellten: “Es wäre richtig, solche Zulassungen gezielt und kostenlos an Nachwuchsärztinnen und -ärzte zu vergeben, wo sie für die Versorgung der Menschen benötigt werden, statt dass Ärztinnen und Ärzte sie meistbietend verkaufen.“ (~ Quelle)
Allerdings gilt natürlich weiterhin: Nix genaues weiß man nicht. Ohne Frage wird das Bundesgesundheitsministerium auf die Ankündigungen seines Chefs reagieren müssen. Von daher nutzen Sie gern die Chance auf dem Laufenden zu bleiben: Zeitlich passend lädt der BMVZ am Nachmittag des 25. Januar 2023 zu einem digitalen LiVE.MEETING unter der Überschrift: Gegenwärtige Aussichten beim MVZ-Thema û Es braut sich was zusammen … ein. | ~ Veranstaltungskalender des BMVZ öffnen.
Original-Auszüge
aus dem BamS-Interview v. 24.12.2022 (Quelle)
Corona verschwindet als Thema. Wird Karl Lauterbach jetzt ein gewöhnlich unbeliebter Gesundheitsminister, der irgendwie versucht, das Gesundheitssystem zu flicken? Lauterbach: „Ich will keine kleinen Reparaturen machen, sondern große Reformen durchsetzen: Die Finanzierung der Krankenhäuser neu aufstellen, die Digitalisierung endlich voranbringen von der elektronischen Patientenakte bis zum E-Rezept, die Bezahlung in der Krankenversicherung und der Pflege neu regeln, die Arzneimittelengpässe beseitigen, mehr Medizinstudienplätze schaffen, neue Aufgaben für Pflegekräfte ermöglichen. (…) Bei diesem Problemstau muss ich wesentlich mehr bringen als ein Standardgesundheitsminister.“
Sie sagen, in der Medizin haben wir es mit der Ökonomie übertrieben. Muss es für Kliniken und Pflegeheime Gewinngrenzen geben? Lauterbach: „Wir müssen in drei Bereichen die Ökonomisierung sofort durchbrechen, weil sie zentral auf die Versorgungsqualität der Patienten geht. (…) Ich mache Schluss damit, dass Kliniken schlecht ausgeführte OPs durchziehen, nur weil es sich finanziell lohnt. Bei den Generika-Arzneimitteln haben wir ein System, in dem wir den letzten Cent rauspressen. […]“ „Es gibt den fatalen Trend, dass Investoren medizinische Versorgungszentren mit unterschiedlichen Facharztpraxen aufkaufen, um sie anschließend mit maximalem Gewinn zu betreiben. Im ersten Quartal 2023 werde ich einen Gesetzentwurf vorlegen, … Die Praxen müssen denen gehören, die dort tatsächlich arbeiten. Dann ist auch Schluss damit, (…) absurde Profitziele zu erreichen.“