Kinder im Fokus: Erstreckung der Telefon-AU und mehr Kinderkrankentage in 2024
Seit dem 18. Dezember ist nun auch die Krankschreibung für Kinder bis 12 Jahre per Telefon möglich. Dies gilt in Anlehnung an die Telefon-AU für Erwachsene und unterliegt damit denselben formellen Einschränkungen, u.a. dem Umstand, dass es sich um eine Nachranglösung zur Videosprechstunde handeln soll – siehe dazu (~ PRAXIS.KOMPAKT v. 18.12.2023). Im Gegensatz zu der am 7. Dezember vom GBA förmlich beschlossenen Option der Telefon-AU, gibt es für die ‘Kinder-AU’ keinen Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses zur Änderung der AU-Richtlinie, da diese sich ausschließlich um Ansprüche der Versicherten, also der Eltern, kümmert. Deshalb wurde eine Sonderregelung zwischen KBV und GKV-Spitzenverband getroffen, die parallel zur AU-Richtlinie des GBA gilt, jedoch erst einmal nur zwei Quartale (~ Volltext der Vereinbarung zur Kinder-AU).
Die Krankschreibung ist demnach für Kinder möglich, die bereits in der Arztpraxis bekannt sind und deren geschilderte Symptome nicht auf eine schwere Erkrankung schließen lassen. Die Kinder-AU kann unter diesen Bedingungen als Erstbescheinigung ausgestellt werden. Für eine telefonische Folgebescheinigung müssten Eltern und Kind allerdings zwischenzeitlich in der Arztpraxis vorstellig geworden sein. Weitere Einschränkungen beschreibt die KBV auf ihrer Webseite: „Das Kind darf noch nicht zwölf Jahre alt sein. Diese Altersgrenze gilt jedoch nicht, wenn das Kind behindert und auf Hilfe angewiesen ist.“ (~ KBV v. 21.12.2023) Mit dem Formular 21 können Eltern somit auch ihren Anspruch auf Kinderkrankengeld nach rein telefonischem Arztkontakt für bis zu fünf Tage geltend machen. Als Honorar für den Versand der Bescheinigung kann die Pauschale 40129 angesetzt werden. Unter obigem Link zur KBV ist im unteren Teil noch eine graue Box mit nützlichem Detailwissen angeführt.
Davon unabhängig wurden, in Anlehnung an die Sonderregelungen für die Kinderkrankentage während der Corona Pandemie, mit Geltung ab 01.01.2024, die Anzahl der Kinderkrankentage angehoben. Die Regelung gilt vorerst bis Ende 2025. Danach können Alleinerziehende pro Kind nun 30 statt 20 Tage und Elternteile je Kind 15 statt 10 Tage in Anspruch nehmen. Die Gesamtzahl steigt damit auf 35 Tage pro Elternteil und auf 70 für Alleinerziehende. Die Regelung geht auf das Pflegestudiumsstärkungsgesetz (Artikel 8a | PflStudSTG öffnet als PDF) zurück und ist am 17.12.2023 in Kraft getreten. Zusätzlich wird darin auch das „Kinderkrankengeld bei stationärer Mitaufnahme“ formuliert. Eine kurze Übersicht dazu bietet unter anderem die Techniker Krankenkasse (~ TK v. 29.11.2023).
Haufe.de v. 18.12.2023
Neuregelung beim Kinderkrankengeld ab 2024
KV Hessen v. 21.12.2023
Telefonische AU eines Kindes | Details und Abrechung
ÄrzteZeitung v. 14.12.2023
Telefon-AU ab 18. Dezember auch für Kinderkrankentage
eRezept-Pflicht ab 1. Januar 2024 | Textbausteine zur Aufklärung von Patienten + MFA
„Wir haben aber zu Hause kein Internet, sagte mir eine Seniorin, als ich ihr die digitale Verordnung erklären wollte“, zitiert die Apotheke Adhoc aktuell und beschreibt ausführlich, wo groß der Aufklärungsbedarf am Praxistresen derzeit ist. Was zu erwarten war. Denn, egal wie (gut) eine Praxis sich und ihre Mitarbeiter auf die eRezept-Umstellung vorbereitet hat, ein Großteil der Patienten, die in den nächsten Tagen und Wochen einen Arzt aufsuchen, wird völlig uninformiert oder mindestens fehlinformiert sein. Es ist daher klar, dass viele (nicht nur ältere) Patienten dieselben Fragen haben werden. Daher haben wir den BMVZ-Mitgliedern bereits in früheren Veröffentlichungen geraten, ihre MFAs zu entlasten, indem gedruckt, als Aushang sowie online die wichtigsten Informationen vorbereitet und vorgehalten werden. Da damit gerechnet werden muss, dass zum Jahreswechsel noch einmal in den Medien massiv – aber nicht unbedingt zielgruppengerecht – zur Umstellung auf das eRezept informiert werden wird, muss zudem mit (nicht so technikaffinen) Patienten gerechnet werden, die Ängste haben, ihr Medikament nicht zu bekommen. Oder die einfach nicht wissen, was jetzt von ihnen erwartet wird.
Denn der Begriff ‘eRezept’ löst bei vielen Patient:innen schlichtweg falsche Assoziationen aus. Dass der Token-Ausdruck im Grunde – mindestens aus Patientensicht – praktisch dasselbe wie Muster 16 ist, wird leider auch kaum so berichtet. Deshalb haben wir Mitte Dezember, um es praxisindividuell zu vereinfachen, mit möglichst wenig Aufwand entsprechende Praxisinformationen zu erstellen – völlig unverbindlich, aber nach bestem Gewissen – einige Textbausteine erstellt, die MVZ und BAG gern als Grundlage nutzen können. Zudem haben wir in diesem kleinen Handout auch zusätzliche Praxishinweise und Hintergrundinfos für Sie und Ihr Team ergänzt. Thematisiert werden neben grundsätzlichen, auf den Durchschnittspatienten orientierte Erklärungen in einfacher Sprache folgende erwartbare Fragen: 1) Bedeutet eRezept, dass jede:r Patient:in jetzt alles irgendwie mit Handy oder App machen muss? | 2) Ist das eRezept auch für den Patienten Pflicht? | 3) Hat der Patient Anspruch auf den Token-Ausdruck? | 4) Was ist mit Verordnungen für PKV-Versicherte?
Apotheke Adhoc v. 02.01.2024
E-Rezept: Volle Arztpraxen und verzweifelte Patienten
BMVZ v. 21.12.2023
Praxishilfe eRezept | Formulierungshilfe zur Aufklärung von MFA und Patienten (PDF)
Dieser Artikel stammt bereits aus der PRAXIS.KOMPAKT – Ausgabe KW49/2023.
Wegen fortgesetzter Relevanz veröffentlichen wir ihn nachfolgend erneut.
Telefon AU dauerhaft möglich | GBA setzt Auftrag des Gesetzgebers vorzeitig um
Seit dem 7. Dezember besteht für die Ausstellung einer Krankschreibung keine zwingende Notwendigkeit mehr, dass Patienten persönlich in die Arztpraxis kommen. Allerdings gilt dies unter bestimmten Bedingungen, wie der gemeinsame Bundesausschuss mitteilt (~ Pressemitteilung v. 7. Dezember | Beschlussgründe) Es gilt: Sofern eine Videosprechstunde nicht möglich ist, kann nach einer telefonischen Anamnese eine Bescheinigung für Arbeitsunfähigkeit ausgestellt werden. Die KBV beschreibt als eine solche Nicht-Möglichkeit, dass der Patient nicht in der Lage ist, die Videokonsultation wahrzunehmen, beispielsweise wegen eines Mangels an technischem Gerät oder Know-how (~ KBV | graue Infobox). Grundsätzlich ist es jedoch erforderlich, dass der Patient bereits in der jeweiligen Arztpraxis bekannt ist, und es dürfen keine schwerwiegenden Symptome vorliegen. In solchen Fällen wäre eine persönliche Untersuchung erforderlich. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann der Arzt nach telefonischer Anamnese eine Erstbescheinigung für bis zu fünf Kalendertage ausstellen. Gemäß der KV Schleswig-Holstein ist eine Telefon AU für Kinder angedacht und würde in der Systematik dem Prozedere folgen, allerdings gibt es dazu bis dato noch keine Rückmeldung des GKV-Spitzenverbandes (~ KVSH | Vorraussetzung Telefon AU).
Besteht die telefonisch diagnostizierte Erkrankung fort, muss der Patient für die Folgebescheinigung persönlich die Arztpraxis aufsuchen. Falls die erste Bescheinigung während eines Praxisbesuchs ausgestellt wurde, ist aber auch die Feststellung einer weiterhin bestehenden Arbeitsunfähigkeit telefonisch möglich. Es besteht jedoch kein Anspruch der Versicherten auf eine Anamnese und Feststellung der Arbeitsunfähigkeit per Telefon. Die Übersendung der AU im Falle der telefonischen Ausstellung (oder via Videosprechstunde) kann mit der Kostenpauschale 40128 abgerechnet werden. Ob im Rahmen dieses, auf Dauer angelegten, Beschlusses die anderen GOPs geändert werden, lässt sich der Beschlussbegründung nicht entnehmen.
Haufe v. 11.12.2023
Krankschreibung per Telefon wieder möglich
Ärztenachrichtendienst v. 09.12.2023
Telefon-AU: Sind wirklich alle Details geklärt?
ÄrzteZeitung v. 07.12.2023
Telefonische Krankschreibung ab sofort und dauerhaft möglich
Update Pool-Ärzte & SV-Pflicht | Nachbetrachtung zum ‘Sturm im Pool’
Nach der Entscheidung des BSG zur SV-Pflicht von Poolärzten gehen die Hoffnungen auf eine schnelle Lösung baden. Allerdings haben die Feiertage auch gezeigt, dass die KVen ihre Notdienste durchaus erfolgreich umgestellt haben (~ ÄrzteZeitung v. 29.12.2023). Es gibt zwar zahlreiche Stimmen, die eine Befreiung von der Sozialversicherungspflicht der KV-beschäftigten Ärzte im ambulanten Notdienst fordern, jedoch haben sich die entscheidenden Personenkreise bis dato nicht kompromissbereit gezeigt. Am 20. Dezember hat das Ärzteblatt berichtet, dass der CSU-Bundestagsabgeordnete Pilsinger einen Brief an Bundesarbeitsminister Heil geschickt habe und in Anlehnung an die Forderung aus den KVen, eine Ausweitung des § 23c Absatz 2 Satz 1 SGBV vorschlägt (~ zum Artikel). Dieser Paragraf entbindet bis dato die Notärzte im Rettungsdienst von der SV-Pflicht. Parteiübergreifend haben sich ebenso die Volksvertreter in Schleswig-Holstein für den gleichen Vorschlag starkgemacht (~ÄrzteZeitung v. 13.12.2023). Bezüglich der kurz nach Urteilsverkündung vom Bundesarbeitsministerium sowie BMG abgegebenen Erklärung, dass man das Urteil und dessen Auswirkungen prüfen würde, gibt es bisher allerdings genau null Neuigkeiten.
Zur Erinnerung:
Im Oktober urteilte das Bundessozialgericht (BSG) über die Sozialversicherungspflicht eines Zahnarztes, der im Notdienst der KZBaWü tätig gewesen war. Das Gericht stellte fest, dass die Sozialversicherungspflicht besteht, da sich der Zahnarzt fremdbestimmt in eine „von dritter Seite organisierte Struktur“ eingefügt habe. In unserer ursprünglichen Information hatten wir beschrieben, dass der Vorsitzende Richter ausdrücklich auf den Einzelfallcharakter der Entscheidung hinwies (~ Sturm im Pool | PRAXIS.KOMPAKT 45. KW). Dennoch nahmen mehrere KVen das Urteil zum Anlass, ihre von Poolärzten gestützten Notdienste einzuschränken. Dazu zählen, unter anderem die KV Schleswig-Holstein, die KV Berlin, die KV Rheinland-Pfalz sowie die KV Baden-Württemberg. Zuweilen kam es dadurch wohl zu Einschränkungen im ambulanten Notdienst. Der Landesgesundheitsminister aus Rheinland-Pfalz hatte sich daher Mitte November zu Wort gemeldet und die KVen gemahnt, ihrem Sicherstellungsauftrag nachzukommen. Die Kritik von Clemens Hoch fiel dabei recht scharfzüngig aus: „Wir werden grundlegend über ein gewisses Rollenverständnis sprechen müssen. Es kann nicht sein, dass die KV ihre Hausaufgaben nicht erledigt und dann Schuldzuweisungen an andere ausspricht.“ (~ ÄrzteZeitung v. 17.11.2023)
In diesem Sinne war es allerdings das einzige wahrnehmbare Echo von der Landesebene. Auch der Bundesarbeitsminister hatte seine kernige Aussage von Mitte des Jahres nicht wiederaufgenommen. Hubertus Heil hatte im Mai 2023 zum – damals noch laufenden – Verfahren gesagt: So „erscheint es aus Sicht der Bundesregierung problematisch, die Beitragspflicht von Ärzten, deren Einkommen sich ganz wesentlich aus Beiträgen anderer Versicherter und von Arbeitgebern speist, als Berufshindernis zu werten.“ (~ ÄrzteZeitung v. 19.05.2023). Es bleibt daher Spekulation, zu deuten, was sich hinter der momentanen Ruhe aus dem Kabinett verbirgt. Allerdings muss klar sein, dass, hier eine Ausnahmeregel zugunsten der KVen zu schaffen, tatsächlich keine hohe Priorität in der Bundespolitik genießt. Möglich aber, dass die geplanten Streikaktionen zwischen den Jahren Bewegung in die Agenda bringen.
Ärzteblatt v. 05.12.2023
Fehlende Notfallpraxen: Klinikärzte registrieren mehr Patienten
NDR v. 20.11.2023
Was der Wegfall von 400 Poolärzten für Patienten in SH bedeutet
rbb 24 v. 30.10.2023
Ärztlicher Bereitschaftsdienst wird in Berlin massiv gekürzt
BSG-Rechtsprechung | Die Abrechnungssammelerklärung im MVZ – Wer muss unterschreiben?
Am 13. Dezember hat das Bundessozialgericht erneut eine grundsätzliche MVZ-Causa entschieden. Dabei entfaltet diese für die meisten MVZ – so viel sei vorweg gesagt – wenig praktische Relevanz im Alltag. Für die allgemeine Frage der Abgrenzung der Aufgabenbereiche zwischen kaufmännischer und ärztlicher Führung und das Ziel, diese möglichst klar zu regeln, ist sie dafür umso relevanter. Leider mit negativ zu bewertendem Ausgang, da die BSG-Richter hier einer weiteren Verquickung der Verantwortungsbereiche Vorschub leisten.
Anlässlich eines konkreten Falls, bei dem einem MVZ in 2013 für zwei Quartale von der KV das komplette Honorar verwehrt worden war, ging es um die Frage, ob eine KV verlangen könne, dass der Ärztliche Leiter die Abrechnungssammelerklärung unterschreiben müsse. In besagtem Fall hatte dieser sich geweigert, weshalb die Abrechnungssammelerklärung ersatzweise von der Geschäftsführung des MVZ abgezeichnet worden war. Dies monierte die KV als relevanten Formfehler und forderte daraufhin alle Honorare zurück, bzw. behielt sie ein. Die Gegenseite argumentierte, dass es sich bei der Geschäftsführung des MVZ um das gesellschaftsrechtlich eigentlich einzig vertretungsberechtigte Organ des MVZ handele, weshalb dessen Unterschrift ausreichend Geltung haben müsse.
Tatsächlich handhaben es die KVen schon immer höchst unterschiedlich, von wem sie die Garantiererklärung zur peinlich-genauen Korrektheit der Quartalsabrechnung verlangen. Meistens sind entsprechende Vorgaben im HVM verankert – also in einer eher rangniederen Norm. Insofern ist der Verweis auf die formale Verantwortung und Haftung des ‘MVZ als solchen’ – wie hier vom betroffenen MVZ angeführt – naheliegend. Das Bundessozialgericht selbst hatte 2012 geurteilt, dass die Verantwortung für „die Korrektheit der Leistungsabrechnung und die Wirtschaftlichkeit der Behandlungen und Verordnungen sowie auch die Abgabe einer wahrheitsgemäßen Abrechnungssammelerklärung (…) unteilbar und nicht delegierbar“ bei der MVZ-Geschäftsführung liegen (Vgl. BSG | B 6 KA 22/11 R vom 21.3.2012).
Die aktuelle Entscheidung geht zu dieser Aussage jedoch – unserer Meinung nach – in offenen Widerspruch. Zwar wurde bisher lediglich der Terminbericht veröffentlicht – die ausführliche Begründung der Entscheidung seht also noch aus. Dennoch ist diesem bereits klar zu entnehmen, dass das BSG meint: „Die entsprechende Vorgabe im Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 87b Absatz 1 Satz 2 SGB V gedeckt und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.“ Die KV darf also die Unterschrift der Ärztlichen Leitung zur entscheidenden Bedingung machen, denn: „Die Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers aus § 35 Absatz 1 Satz 1 GmbH-Gesetz wird durch das Unterschriftserfordernis im Honorarverteilungsmaßstab nicht berührt.“
Einen positiven Nebeneffekt der Entscheidung gibt es allerdings auch. Das BSG verweist darauf, dass es dem MVZ ja freistünde, Vertreter bei zeitweiser Verhinderung einer ärztlichen Leitung zu benennen, um sicherzustellen, dass die geforderte Unterschrift stets gegeben werden kann. Aber diese so als Fakt vom BSG in den Raum gestellte Behauptung stimmt so bisher nicht. Immer wieder wird uns berichtet, dass KVen weder Vertreterbenennungen noch die Bestellung mehrerer Ärztlicher Leiter zulassen – ein Umstand, zu dem der BMVZ schon lange Klarheit einfordert. Ein wenig von dieser Klarheit hat das BSG mit diesem Nebensatz nun gegeben. Bleibt jetzt nur abzuwarten, wie die KVen darauf reagieren.
PPP Rechtsanwälte v. 22.12.2023
HVM-Regelung zum Unterzeichnungserfordernis der Quartalsabrechnung durch den ärztlichen Leiter
Meyer Köring Rechtsanwälte v. 16.12.2023
Abrechnung im MVZ: Fehlende Unterschrift des ärztlichen Leiters kann zu vollständigem Honorarverlust führen
Terminbericht des BSG v. 13.12.2023
Entscheidungsbericht 49/2023 (im PDF ab Seite 2)
Ambulante Versorgung 2040 | Die polierte Glaskugel des Prof. Dr. Gerlach
Im Rahmen eines Nikolausempfanges des bayrischen Hausärzteverbandes hat Prof. Dr. Ferdinand Gerlach (~ mehr zu) eine Prognose zur Primärversorgung für das Jahr 2040 formuliert. Gleich 17 Jahre in die Zukunft zu schauen, mag bei der Volatilität des Zeitgeschehens gewagt anmuten, dennoch sind einige der acht aufgestellten Thesen einen kurzen Gedanken wert. Gerlach selbst war lange Jahre Vorsitzender Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (~ SVR) und hatte darüber hinaus zahlreiche Ämter und Positionen inne, die vermuten lassen, dass seine Interpolation nicht aus der Luft gegriffen ist. Nachfolgend haben wir seine auf der Webseite des bayrischen Hausärzteverbandes veröffentlichten Thesen (~ direkt zu) aufgegriffen und teils auch kommentiert.
Erstens: Die großen Tech-Konzerne verfügen bereits jetzt über die Mittel, effektiv in die Primärversorgung einzugreifen. Das betrifft die Patientensteuerung, Selbstdiagnostik, Telemedizin, bis hin zur Onlineapotheke. Bis 2040 wird deren Einfluss auf die Versorgungslandschaft zunehmen. | Zweitens: „Plattformökonomische Wertschöpfungsketten setzen sich über hochpotente Netzwerk- und Skaleneffekte auch in hochregulierten Versicherungssystems früher oder später durch.“ Bedeutet, Konzerne wie Google oder Apple bemühen sich schon seit geraumer Zeit, ihre Kunden in die eigenen „Ecosystems“ – also ökonomische Ökosysteme – einzubinden. Im übertragenen Sinne reicht dieses Ecosystem vom Unwohlsein des Patienten, dem XY-Testkit per Post, die AU via Telemedizin über die Plattform des gleichen Anbieters bis zum Medikament per Bote. Im Falle der Tech-Giganten dann auch verbunden mit den weiteren Angeboten der Dienstleister.| Drittens: Die Ambulantisierung wird weniger stationäre Aufenthalte zur Folge haben. | Viertens: Im Rahmen der Ambulantisierung werden sich Primärversorgungszentren bilden, die multiprofessionell und interdisziplinär arbeiten. Gerlach meint, dass sich diese aus Arztnetzen, BAGs und MVZ, sowie Grundversorgerkliniken herausbilden.
Aus Sicht des BMVZ sei ergänzt, dass die normativen und politischen Hürden im MVZ-Betrieb es fragwürdig erscheinen lassen, dass in Zukunft mehr interdisziplinäre Kooperationen gestaltet werden sollen, wenn es bereits jetzt derart unbefriedigend gelingt, fachübergreifende Strukturen zu betreiben. Einen Einblick in die reale MVZ-Welt haben wir aus einem Gastbeitrag der BMVZ Geschäftsführerin in der ÄrzteZeitung in dieser Ausgabe aufbereitet. | Gerlach führt als fünfte These ins Feld: „Primärversorgungszentren bieten auch „Hospital at home/virtual ward“ (Videomonitoring, digitale Devices, Hausbesuche) sowie „Healthcare anywhere“ (am Arbeitsplatz, auf Reisen, im selbstfahrenden Auto)“. Konzepte, die in Anbetracht des momentanen Standes der TI-Entwicklung utopisch – für manchen vielleicht dystopisch – erscheinen, werden in anderen Ländern bereits vielfach getestet. Für Interessierte verweisen wir ausnahmsweise auf die englische Wikipedia-Seite zum Thema „virtual ward“, die eine gute Übersicht und weiterführende Links bietet (~ Hintergrund ‘virtual ward’).
Sechstens: KI-Programme und Chatroboter werden Einzug in die Praxisorganisation und Patientenversorgung halten. | Siebtens: „Wunsch/Hoffnung: empathische Hausärztinnen und Hausärzte werden wichtiger denn je, entscheiden (mit mehr Zeit) gemeinsam mit Patienten über Evidenz-basierte Diagnostik und Therapie, schütze diese vor zu viel und falscher Medizin und tragen entscheidend zu mehr Nachhaltigkeit und Resilienz bei.“ | Achtens sei der Vollständigkeit halber auch erwähnt: „Hausärzte und ihr Verband (sowie die DEGAM) können diese tiefgreifende Transformation mitgestalten. Die Weichen werden jetzt gestellt.“ Zu den letzten beiden Punkten ist anzumerken, dass Gerlach von 2010 bis 2016 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) war. Abschließend führt Gerlach Herausforderungen durch die demografische Alterung und den Klimawandel an, und fordert eine Auflösung der Sektorgrenzen (~ Allgemeinarzt.digital).
Im Grunde lassen sich die Kernforderungen auch so zusammenfassen: ‚Die Gesundheitsversorgung der Zukunft benötigt Kooperation und wird sich umfassend digitalisieren‘. Inwieweit in dieser Vision die Trägervielfalt erhalten bleibt, hängt von Entscheidungen ab, die im Hier und Jetzt getroffen werden. Es ist gewissermaßen vielsagend, dass für diesen Prozess immer neue Begriffe für Organisationsformen und Vorhaben ins Feld geführt werden, ohne auf bestehende Modelle und deren Optimierung einzugehen. Die beigefügten Links zeigen auf, dass der Blick in die Zukunft auch aus den verschiedenen anderen Perspektiven ein ähnliches Bild zeichnet (Robert Bosch Stiftung | Deloitte GmbH | Techniker Krankenkasse).
Medical Tribune v. 19.12.2023
Praxiskolumne: Einzigartig, unersetzbar, unentbehrlich?
Bayr. Hausärzteverband v. 01.12.2023
Aufrüttelnde Prognose für die Zukunft von Prof. Dr. Gerlach
MVZ als Politikum | Retrospektive 2023 und aktuelle Wortmeldungen
Zum Jahreswechsel werden, in Anlehnung an die ein Jahr alten Aussagen des Bundesgesundheitsministers bezüglich des ‘letzten schönen Weihnachtens für i-MVZ’, wieder allerlei rhetorische Nebelkerzen geworfen. Als prominentes Beispiel wären die bayrische Gesundheitsministerin Gerlach zu nennen, die von Karl Lauterbach besagte Regulierung einfordert: „Die aktuelle Untätigkeit der Bundesregierung verschlimmert das Problem noch weiter: Seit der Ankündigung von Bundesgesundheitsminister Lauterbach vor einem Jahr, MVZ zu regulieren, zeigen Investoren nämlich offenbar ein gesteigertes Interesse an Praxisübernahmen.“ (~ Pressemitteilung v. 19. November). Beifall hierfür gab es von der Bundesärztekammer: BÄK und Gerlach dringen auf MVZ-Regelungen. Wiederholt hatte der BMVZ 2023 dementgegen darauf verwiesen, dass es vielerlei gute Gründe für den Erhalt einer diversifizierten Versorgungslandschaft gibt, und dabei konkrete, über Plattitüden hinausgehende Vorschläge zur Weiterentwicklung des Normenrahmens gemacht, die eine solide Debattengrundlage für eine bodenständige Nachjustierung des Bestehenden bilden, aber – anders als die effektheischenden ‘Böller-Argumente’ von KVB oder Bundesrat ohne große Knalleffekte daherkommen.
Die Säulen, auf dem die Argumentation des BMVZ beruht, stehen auf einem Fundament einer nun mehr 20-jährigen Erfahrung mit den Strukturen. Ebendiese Zeitspanne ist der Grund zu fordern, den Kern der Debatte zu verlagern. Denn es geht schon lange nicht mehr nur um MVZ-Neugründungen, sondern auch um die Zukunft bereits bestehender Einrichtungen. Die Bindung von ärztlichen MVZ-Gründern an ihre vertragsärztliche Tätigkeit resultiert in ungewollten Konsequenzen. „Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb bisherigen Vertragsärzten und Vertragsärztinnen das Recht abgesprochen wird, ihr MVZ weiterzuführen.“ (~ Observer Gesundheit 22.09.2023) Da diese Möglichkeit verwehrt bleibt, geht mit der Abgabe des Stethoskops für Gründer-Ärzte zumeist auch die verzweifelte Suche nach Interessenten einher. Die Verantwortung, das Kapital und das kaufmännische Geschick, die es braucht, um ein MVZ zu übernehmen, bilden eine hohe Einstiegshürde für willige Ärzte. In conclusio – analysiert der BMVZ – bleiben oft nur jene Interessenten übrig, die aufgrund ihrer Finanz- und Managementkapazitäten von der Politik eigentlich nicht gewollt werden.
Dabei gibt es politisch und juristisch valide Ansätze, Ärzt:innen MVZ-Inhaber die Möglichkeit zu bieten, ihr Lebenswerk in die Hände ihrer vormals angestellten Kollegen zu geben, ohne dass diese einen lebensverändernden Kredit aufnehmen müssten. Denn ja, große Strukturen mit vielen Angestellten, die womöglich fachübergreifend eine solide Versorgung anbieten können, sind kapitalintensive Unternehmen. Viele dieser Einrichtungen sind auf das mutige Engagement von Ärztinnen und Ärzten zurückzuführen. Ebendarum setzt sich der BMVZ, mit knapp 25 weiteren Unterstützerverbänden in einem Positionspapier für die Etablierung von ‚Unternehmen mit gebundenem Vermögen‘ ein (~ Stiftung Verantwortungseigentum | lädt als PDF). Durch die neue Rechtsform würden sich Alternativen zur Fortführungen der Einrichtungen ergeben, die dem Grundgedanken einer pluralistischen Trägervielfalt entgegenkommt.
Ebenfalls wiederholt hatte der BMVZ darauf verwiesen, dass sich die Spruchpraxis der Gerichte, allen voran des Bundessozialgerichtes, teils unharmonisch in den von der Politik propagierten Plan einer zukunftssicheren Versorgung einfügt. „Kritisch sind insbesondere die Drei-Jahres-Rechtsprechung des BSG und der Unvereinbarkeitsbeschluss zwischen Anstellung und Gesellschafterstellung zu sehen.“ Das Urteil zur Unterschriftenpflicht der ärztlichen Leiter (ÄL) bei der Sammelerklärung (Beitrag dazu in dieser Ausgabe der PRAXIS.KOMPAKT) reiht sich in diese Kakofonie ein. Parallel wird jedoch eine klare Definition der Aufgaben der ärztlichen Leitung ausgespart. „Die normativ unklare Aufgaben- und Verantwortungsverteilung zwischen ärztlicher Leitung und Geschäftsführung belastet die Betroffenen und beschäftigt die Gerichte. […] Die ÄL-Funktion sollte im Sinne einer kontrollierenden Schutzfunktion weiterentwickelt werden.“
Konkrete Vorschläge für die Umsetzung, betten sich ein, in den Aufruf des Bundesverbandes MVZ, die Diskussion konstruktiver zu gestalten. Es ist dabei, erklärtermaßen, nicht das Ziel, Befürchtungen zu zerreden. So befürwortet der BMVZ die Einführung von Auffälligkeitsprüfungen bezüglich der Leistungsbreite, aber bitte für alle Strukturen, sowie insbesondere auch eine Transparenzoffensive bezüglich der vertragsärztlichen Strukturen. Alle diesjährigen Beiträge des BMVZ tragen in sich das Plädoyer, nach 20 Jahren, die MVZ als integralen und normalen Bestandteil der Versorgung zu erkennen. Denn hinter den politischen Nebelkerzen steht unverrückbar über alle bisherigen Gesetzesänderungen die Silhouette einer Stress-bewährten Idee, die auch keine neuen Etiketten benötigt.
Oder, wie die BMVZ-Geschäftsführerin Müller in ihrem Meinungsbeitrag in der ÄrzteZeitung schreibt: „Als der Virchowbund in den frühen 1990er-Jahren noch eine rein ostdeutsche Vereinigung war, wurde sie von dem Motto getragen, dass Ärzte, die in die Niederlassung gezwungen werden, genauso unfrei seien, wie diejenigen die keine Wahl hätten, als angestellt tätig zu sein. Soll heißen, wenn wir als Gesellschaft den aktuell tätigen Medizinergenerationen nicht (wieder) vorschreiben wollen, wie sie arbeiten sollen, dann stellt die Wahlmöglichkeit der Vertragsärzt:innen, ob und wo, beziehungsweise bei welchem Arbeitgeber sie tätig werden wollen, also auch die Trägerpluralität und die Existenz von MVZ einen Wert an sich dar.
Wenn es dem Minister, dem Bundesrat, der KVB und der BZÄK grundsätzlich darum geht, Wahlmöglichkeiten zu erhalten, dann müssen wir als Gesellschaft eine offene Debatte darüber führen, dass wir in der ambulanten Versorgung unbedingt auch Unternehmertypen brauchen. Menschen also, die bereit und in der Lage sind, wirtschaftliche Risiken einzugehen und dauerhaft zu tragen, um so jenen, die das nicht können oder wollen, qualitativ hochwertige Arbeitsplätze zu bieten.“
Alle Beiträge sind auch im Pressespiegel auf der BMVZ Webseite (~ Link dazu) einsehbar.
ÄrzteZeitung v. 19.12.2023
Gleichlange Spieße für Unternehmen und Vertragsärzte? Bei MVZ noch lange nicht!
LinkedIn-Post des BMVZ v. 21.12.2023
AMWF bezieht kritische Stellungnahme des BMVZ zur bayrischen MVZ-Studie in seine Bewertung der ‘iMVZ-Debatte’ ein
Observer Gesundheit v. 22.09.2023 + 09.01.2023
MVZ Debatte neu denken
Über eine sprachliche und inhaltlich entgleiste Debatte
BMVZ-Beitrag v. 27.03.2023
Drei Maßnahmen zu mehr Transparenz für MVZ